Stakeholder Kapitalismus: SDGs und ESGs als Kompass der Transformation
Wie wollen wir leben? Wir sind Täter und Zeuge einer erdrutschartigen Verschiebung unserer Existenz. Wählen wir Zynismus und nehmen die Zerstörung des Planeten in Kauf? Wählen wir Optimismus und setzen uns aktiv für eine bessere Zukunft ein? Dieser Artikel zeigt, was möglich ist, wenn wir uns für Optimismus entscheiden. Wenn wir Organisationen unterstützen, die die Welt zu einem besseren Ort machen – und sie in die Pflicht nehmen.
Beginnen wir mit Status quo
Das letzte Jahrzehnt war das wohlmöglich heißeste in den vergangenen 125.000 Jahren, so die Analyse zum Sachstandsberichts des Weltklimarats IPCC. Unsere Ozeane, die 70 Prozent des Planeten bedecken, erwärmten sich demnach im letzten Jahrhundert stärker als jemals zuvor in den vergangenen 11.000 Jahren. Laut UN haben 2,1 Milliarden Menschen keinen Zugang zu Trinkwasser und fast ein Drittel der Weltbevölkerung, 2,37 Milliarden Menschen, keinen Zugang zu angemessener Nahrung. Der Weltbiodiversitätsrat erwartet in den kommenden Jahrzehnten das Aussterben von fast einer Million Pflanzen- und Tierarten: „Ein weiterer Anstieg nimmt allmählich Züge der fünf erdgeschichtlichen Massenaussterben an.“ Gleichzeitig steigen die weltweiten CO2-Emissionen auf 36,3 Milliarden Tonnen, das höchste jemals gemessene Volumen. Etwa 80 Prozent davon stammen aus den G20-Ländern. Und nur 8 Lieferketten, so das World Economic Forum (WEF), tragen die Verantwortung für 50 Prozent der Emissionen.
Der Mensch führt den größten Krieg gegen sich selbst, die Abschaffung des Planeten
Wir wissen das. Wir haben auch die Lösungen zur Rettung und die Unterschriften unserer politischen Akteure dazu. Und doch bewegen wir uns mit Turbo-Geschwindigkeit in Richtung eines systemischen Zusammenbruchs. Wir sind Verursacher und Zeuge eines weltweiten Sturms, dem anschließend nicht die Ruhe folgen wird, sondern die Aneinanderreihung immer größerer Stürme. Längst werden Fragen wie diese diskutiert: Wie viele der 8 Milliarden Menschen werden übrigbleiben? Wo werden die leben? Welche Kontinente, welche Länder bleiben bewohnbar? Ihr Heimatort, meiner?
„Wir erleben einen Tsunami an Herausforderungen.“
„Um den Planeten zu retten, brauchen wir die Zusammenarbeit von Regierungen, Unternehmen und Zivilgesellschaft in allen Ländern, auf allen Kontinenten, in allen Sektoren und Industrien“, sagt Profosseor Klaus Schwab, Gründer und Chairman des World Economic Forums. Das WEF begegnet dem „Tsunami an Herausforderungen“ mit radikaler Zusammenarbeit. Als sich mit dem Ausbruch von Covid-19 die Nationalstaaten immer weiter abschotteten, agierte man in Genf als weltweiter Motor für die Schaffung eines nachhaltigen Wirtschafts- und Gesellschaftssystems. „Gemeinsam“ ist das Motto, das hier alle relevanten Stakeholder der Gesellschaft an den Entscheidertisch bringt, wenn es um die Rettung der Ozeane geht, das Erreichen der Klimaneutralität oder die Transformation der Städte. Weil ich bei dieser Entwicklung dabei sein wollte, habe ich vor 2 Jahren, quasi Übernacht, eine deutschsprachige Plattform für die Pioniere der Transformation ins Leben gerufen. Meine Gespräche zeigen deutlich, wie positive wirtschaftliche, ökologische und soziale Veränderungen stattfinden, wenn wir die grundlegende Interkonnektivität der Welt anerkennen. Klar ist auch, Länder und Unternehmen ohne Nachhaltigkeitsstrategie werden keine Zukunft haben.
Die SDGs und ESGs als globaler Kompass der Transformation
Mit ihrer Unterschrift 2015 unter die 17 UN-Nachhaltigkeitsziele, die Sustainable Development Goals (SDGs), haben sich 193 Staaten der Welt verpflichtet, den Planeten zu retten. Armut und Hunger soll bis 2030 reduziert, Gesundheit verbessert, Gleichberechtigung ermöglicht und der Planet geschützt werden. Alle Staaten sind aufgefordert, ihr Tun und Handeln danach auszurichten. Was bedeutet das für Unternehmen? 2019 ergriff der Business Council des World Economic Forums die Initiative, zusammen mit der Bank of America und den vier großen Wirtschaftsberatungsunternehmen Deloitte, EY, KPMG und PwC, einen einheitlichen Nachhaltigkeits-Standard zu erarbeiten. Auf Basis der SDGs und dem Pariser Klimaabkommen sollte der Einfluss der Unternehmen auf die Gesellschaft und den Planeten messbar gemacht werden. Ein Jahr später einigte man sich auf einen Satz von 21 Kern- und 34 erweiterten Metriken, besser bekannt als ESGs. Das E steht für Umwelt (Environmental), das S für Soziales (Social) und das G für Unternehmensführung (Governance).
Die weltweite Einbettung der ESGs
Bis heute haben sich mehr als 170 globale Unternehmen entschlossen, die ESGs zu übernehmen, mehr als 75 von ihnen haben sie in ihre Berichterstattung mit einbezogen, wie zum Beispiel Siemens, Moller-Maersk, SAP, Deloitte, Accenture, Bank of America, Schneider Electric, HSBC, Mastercard, Nestlé, Paypal, TotalEnergies, UBS, Unilever. Damit einher gehen gigantische Veränderungen. Wir sehen die Geburt neuer ESG-verwandter Industrien und Sektoren: Es geht um die Messung neuer Standards, erweiterte Datensammlungen, z.B. für die gesamte Lieferkette, KI- und Analysefirmen, neue Ratingagenturen und Rankings, Handhabung und Bewertung von ESG-Investitionen, die Umleitung privaten Kapitals in nachhaltige Vermögenswerte, Beratung zur Nachhaltigkeits-Berichterstattung, neue Management- und Führungs-Kenntnisse, neue Regeln und Gesetze, verändertes Aktionärsverhalten. Das sind nur einige. Ich mutmaße, dass die nächsten Einhörner Milliarden-Start-Ups aus der ESG-Branche sein werden.
Doing Good ist heute schon ein Billionen-Dollar-Business
Bis 2025 ist das globale ESG-Vermögen auf dem besten Weg 53 Billionen US-Dollar zu überschreiten, was mehr als einem Drittel des prognostizierten verwalteten Gesamtvermögens von 140,5 Billionen US-Dollar entspricht, so Bloomberg Intelligence. „Nachhaltigkeit ist der neue Anlagestandard“, sagte Larry Fink, CEO des weltgrößten Vermögensverwalters BlackRock vor einem Jahr, um 2022 hinzuzufügen: „ESGs sollten an die Performance geknüpft werden.“ Laut McKinsey veröffentlichen inzwischen etwa 90 Prozent der S&P 500-Unternehmen ESG-Berichte. Während COP26, der UN-Klimakonferenz, bildete sich die Glasgow Financial Alliance for Net Zero (GFANZ), der über 450 Finanzunternehmen angehören, die für Vermögenswerte in Höhe von mehr als 130 Billionen US-Dollar verantwortlich sind. Gemeinsam wollen sie die Netto-Null-CO2-Ambitionen im gesamten Finanzsystem stärken und die Umsetzung des Pariser Klima-Abkommens unterstützen.
Neue Regeln und Gesetze
Es geht um den Aufbau nachhaltiger Unternehmen. Es geht nicht darum, Nachhaltigkeit zu verkaufen. Das ist ein völlig neuer Denkansatz, der in der Wirtschaftswelt Einzug hält. Wir befinden uns bereits im Übergang von den „soft laws into hard laws“ – von der Freiwilligkeit zur gesetzlichen Verankerung. Der EU Green Deal zielt darauf ab, Europas Wirtschaft in Richtung Nachhaltigkeit zu modernisieren. Bei COP26 sehen wir die Gründung des International Sustainability Standards Board (ISSB), das gerade die ersten globalen Richtlinien für die Offenlegung von Nachhaltigkeit in Unternehmen veröffentlicht hat. EU- und EP-Verhandlungsführer einigten sich auf neue Berichtspflichten, die ab 2024 für Unternehmen gelten sollen: „Finanz- und Nachhaltigkeits-Berichterstattung werden gleichberechtigt sein, Investoren erhalten endlich Zugang zu verlässlichen, transparenten und vergleichbaren Daten.“ Alle Unternehmen in der EU aller Rechtsformen, die 2 von 3 der folgenden Kriterien erfüllen, sind davon betroffen: ≥ 250 Mitarbeiter oder ≥ 40 Mio. Euro-Gesamtvermögen in der Bilanz oder ≥ 20 Mio. Euro-Nettoeinnahmen.
Schaffung von SDG- und ESG-Ecosystemen
Neue Ecosysteme operieren wie ein Powerhaus, weil sie Länder- Sektor- und Industrie-übergreifende Partnerschaften hervorbringen. So haben sich RMI, WEF, die Energy Transitions Commission und die We mean Business Coalition zusammengeschlossen und gründeten 2021 die Mission Possible Partnership. Ziel: Die 7 emissionsreichsten Industrien -Zement, Stahl, Aluminium, Chemikalien, sowie die Schifffahrt, Luftfahrt und LKW-Transport- bis 2050 klimaneutral zu machen. Mehr als 400 globale Partner haben sich bereits angeschlossen. In seinem ersten Gespräch als CEO sagte mir Matt Rogers: „Wir sind die Bausteine der globalen Wirtschaft und verantwortlich für 30 Prozent der Treibhausgase. Die 4 Materialen allein für 60 Prozent der gesamten Industrieemissionen. Wir arbeiten radikal zusammen, und zwar entlang der gesamten Lieferkette. Wir erschaffen Net-Zero Schritt für Schritt. Wir arbeiten Sektoren- und Länder-übergreifend; gemeinsam denken wir Geschäftsmodelle neu, egal ob im Hafen von Shanghai oder in Los Angeles.“ Optimistisch stimmt ihn, „dass Investoren die Nachfrage antreiben.“
Was bedeutet Denken und Handeln in Ecosystemen für CEOs
Die gute Nachricht zuerst: Der CEO ist nicht mehr allein. Er darf um Unterstützung bitten. Er muss sogar. 67 Prozent von ihnen erfahren heute „moderaten bis extremen Druck der Stakeholder, globale Herausforderungen zu adressieren.“ Unter den Führungskräften aller Sektoren verstärkt sich der Konsens, dass, um die bestmögliche Entscheidung zu treffen, alle relevanten Stakeholder an den Tisch gehören. Unternehmensführung passt sich der Komplexität unseres Lebens an. Fragen, die ein Vorstand heute zu beantworten in der Lage sein sollte, sind: Wie sieht mein Markt in einer Net Zero-Welt aus? Was ist mein Business-Modell, um mich in diesem Markt zu etablieren? Was kann ich heute ändern, um den Erfolg von morgen zu garantieren? Welche Unterstützung brauche ich dafür und wie bilde ich ein eigenes Ecosystem? ESG und Klimawandel sind Bereiche, in denen Vorstandsmitglieder keine Aufsicht übernehmen können, wenn sie nicht über die nötigen Einblicke verfügen. Der Umbau eines Unternehmens auf der Basis der SDGs und ESGs erfordert neue Kenntnisse und Fähigkeiten. Und den Willen dazu.
Wir brauchen mehr Kompetenz
Laut dem Future of Jobs Report des WEF werden 50 Prozent der Belegschaft bis 2025 eine Umschulung benötigen, da die Einführung von Technologie zunimmt. Das betrifft alle Stakeholder im Arbeitsprozess, im öffentlichen und privaten Sektor, vom Vorstand bis in den Produktionsraum. „Kritisches Denken und Problemlösung“ stehen ganz oben auf der Liste der gefragten Fähigkeiten. Es geht zum einen darum, Zusammenhänge zu verstehen: Zum Beispiel, weshalb der Verlust der Artenvielfalt einen Staat ruinieren kann und als Folge dessen, das Unternehmen, in dem ich arbeite. Die technologische Entwicklung betreffend: „Bis 2025 dürften rund 97 Millionen arbeitsteilige Stellen zwischen Mensch, Maschine und Algorithmus entstehen.“ Zunehmend nachgefragt sind Datenanalysten und Wissenschaftler, KI- und Robotik-Spezialisten. Bezüglich ESG ist die Implementierung einer ESG-Abteilung nur ein erster Schritt auf dem Weg zur Schaffung eines nachhaltigen Unternehmens. Die Kompetenz dafür muss neu erlernt, neu zertifiziert werden. Es braucht neue Fachrichtungen an den Universitäten, den Ausbildungsstätten, Fortbildungskurse. Die müssen nicht perfekt sein, aber vorhanden und ausbaufähig. So wie ein Finanzvorstand über Finanzwissen verfügt, muss ein ESG-Vorstand Expertise in diesem Bereich erworben haben.
Die öffentliche Debatte
Der Planet, Anfang und Ende unserer Existenz, muss schneller und stärker in die öffentliche Debatte, in die Bildung, in die Unternehmen, das Beamtentum und die Regierungen. Die Öffentlich-Rechtlichen Rundfunkanstalten, die eigens gegründet wurden, um die Grundversorgung der Bevölkerung mit Informationen zu gewährleisten, sollten im internationalen Verbund ein Aufklärungsprogramm zum Weltklima schaffen. Mein Vorschlag wäre, jeden Abend 15 Minuten vor den Nachrichten, der Transformation einen Platz einzuräumen: Wo fahren die ersten Net-Zero Schiffe auf den Ozeanen, was bewirken das Pflanzen von 1 Milliarde Bäumen in Afrika oder ein Climate Action Tracker in den Büros der Bürgermeister, welche Industrie- und Sektoren- übergreifende Partnerschaften entstehen, um die Chemieindustrie klimaneutral zu machen, warum erfordert der Arbeitsmarkt Umschulungen für 50 Prozent der Arbeitswelt, wie bildet man überhaupt ein neues Ecosystem. Bloomberg hat ein tägliches Briefing Bloomberg Green und im Vorfeld zu COP26 lief mit „Climate Matters“ ein solches Programm bei Channel 4 in Großbritannien.
Zum Optimismus gibt es keine Alternative
Natürlich verläuft ein Umbruch, eine Transformation hinein in ein neues Gesellschaftssystem nicht linear. Schon gar nicht, wenn es global stattfindet. Wir befinden uns im Übergang vom kurzfristigen zum langfristigen Denken und Handeln, vom Aktionärskapitalismus zum inklusiven Multi-Stakeholder Kapitalismus. Es passiert sehr viel Gutes und Ermutigendes, wie der Artikel versucht hat aufzuzeichnen. Wir haben seit 2015, dank der UN, die SDGs als globalen Kompass für die Regierungen und seit 2020, dank des World Economic Forums, die ESGs als globalen Kompass für die Unternehmen. Beide Bündnisse sind Teil eines zielorientierten Leitfadens für einen kompletten Systemwandel, der in eine grünere, fairere und inklusivere Welt führen soll. Dass wir dieses Ziel erreichen, davon bin ich überzeugt. „Die Energiewende wird in den nächsten 20 bis 30 Jahren das größte Investitionsprojekt der Menschheit sein“, sagt Jules Kortenhorst, CEO von RMI und Vorsitzender des WEF-Global Future Council on Net Zero Transition. In dieser Welt können wir unseren eigenen Platz schaffen oder wir versinken, samt Planet, in Verzweiflung und Versagen.